Sonntag, 4. September 2011

I ♥ Rezepte hersagen als Überlebenshilfe

Herta Müllers Roman "Atemschaukel" erzählt vom Schicksal der Deportierten aus Siebenbürgen in sowjetischen Arbeitslagern nach dem Zweiten Weltkrieg.

Im Kapitel Mondsichelmadonna geht es um Rezepte:

„Wenn der Hunger am größten ist, reden wir von der Kindheit und vom Essen. Am ausführlichsten reden die Frauen aus den Dörfern. Bei ihnen hat jedes Kochrezept mindestens drei Akte, wie ein Theaterstück. Durch die verschiedenen Ansichten über die Zutaten wächst die Spannung.

Sie steigert sich rasant, wenn in die Füllung aus Speck, Brot und Ei keinesfalls nur eine halbe, sondern eine ganze Zwiebel, und nicht nur vier sondern sechs Knoblauchzehen gehören und wenn die Zwiebel und der Knoblauch nicht nur gehackt, sondern gerieben werden, und wenn Semmelbrösel besser sind als Brot, und Kümmel besser ist als Pfeffer, und Majoran sowieso das Beste, sogar besser als Estragon, der doch zu Fisch passt, nicht zu Ente.

Wenn die Füllung zwischen Haut und Fleisch geschoben werden muss, damit das Hautfett beim Braten einsickern kann, oder unbedingt in die Bauchhöhle geschoben werden muss, damit sie beim Braten nicht das Hautfett saufen kann, hat das Theaterstück seinen Höhepunkt erreicht. Manchmal behält die evangelisch gefüllte Ente recht, manchmal die katholisch gefüllte.

Und wenn die Frauen vom Dorf mit Wörtern Suppennudeln machen, dauert das sicher eine halbe Stunde bis die Anzahl der Eier und das Rühren mit dem Löffel oder Kneten mit der Hand besprochen ist, bis der Nudelteig glasdünn gewalkt und trotzdem nicht zerrissen und auf dem Nudelbrett getrocknet ist. Bis er dann gewickelt und geschnitten ist, bis die Nudeln dann vom Nudelbrett in die Suppe kommen, bis die Suppe langsam und ruhig oder kurz und aufwallend gekocht ist, bis sie serviert und eine gute Handvoll oder nur eine spitze Pfote frisch gehackte Petersilie daraufgestreut wird, dauert es noch mal eine Viertelstunde.

Die Frauen aus der Stadt verhandeln nicht, wie viel Nudeln man für den Nudelteig nimmt, sondern wie viele man sparen kann. Und weil sie ständig an allem sparen, taugen ihre Kochrezepte nicht einmal für den Prolog eines Theaterstücks.

Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.

Es ist ein Spießrutenlaufen, bis man in der Fr
auenbaracke sitzt. Beim Eintreten muss man, bevor man gefragt wird sagen, wen man sucht. Am besten fragt man selbst: ist die Trudi da? und während während man fragt, geht man am besten schon nach links, dritte Reihe, auf das Bett der Trudi Pelikan zu.Die Betten sind Eisengestelle wie in den Männerbaracken. Manche Betten sind mit Decken zugehängt, für die Abendliebe. ich will nie hinter die Decke, ich will nur Kochrezepte."


via




6 Kommentare:

  1. Musste erstmal tief Luft holen, dann hab ich es nochmal gelesen und es war immer noch atemberaubend!Eine begnadete Schreiberin!

    AntwortenLöschen
  2. Herta Müller beeindruckt mich sehr und das nachhaltig. Ich habe vor ein paar Jahren mal viele Kurzgeschichten bearbeitet und die meisten schnell wieder vergessen oder nur noch oberflächlich in Erinnerung, an Drückender Tango von Herta Müller kann ich mich immer noch so gut erinnern, an das Gefühl, das beim Lesen hervorgerufen wurde. Großartige Erzählerin.

    AntwortenLöschen
  3. Ich glaube es selbst nicht - so ein tolles Buch hab ich seit dem Nobelpreis in meinem Stapel und habe mich einfach nie herangetraut. Heute angefangen: wirklich atemberaubend, die Atemschaukel. Danke für genau dieses Kapitel!

    AntwortenLöschen
  4. Das ist ein starker, beklemmender Textauszug, der wohl charakteristisch ist für die atemberaubenden Werke dieser Schriftstellerin:
    beeindruckend, wirklich.

    Liebe Grüsse in die Runde,
    Brigitte

    AntwortenLöschen
  5. So schön, wenn man aus einem reichen und großzügigen Repertoire schöpfen kann, dass auch genug für Gäste da ist! Diese Stadtfrauen sind ja sowas von langweilig und gastunfreundlich!

    AntwortenLöschen
  6. Daran sieht man, wie überlebenswichtig es sein kann, Wissen intus zu haben, also auswendig zu können und nicht nur zu wissen, wo man nachschauen kann oder wo man etwas abgespeichert hat...Oh je!

    AntwortenLöschen